2000: Eckpunkte einer frauengerechten Migrationspolitik

LFR-Arbeitskreis „Integration von Migrantinnen“: Eckpunkte einer frauengerechten Migrationspolitik für Baden-Württemberg

Gliederung
Vorwort
Präambel
Teil I Eckpunkte einer frauengerechten Migrationspolitik
1. Rechtliche Rahmenbedingungen
2. Bildung
3. Arbeit
4. Gesundheitsversorgung
Teil II Integration von Migrantinnen und Frauenverbandsarbeit (intern)

Vorwort
Der Delegiertentag des Landesfrauenrates hat am 12. Juni 1999 beschlossen, einen Arbeitskreis „Integration von Migrantinnen“ zu gründen. Der Arbeitsauftrag war, gemeinsam mit Vertreterinnen der Verbände und engagierten Migrantinnen frauenpolitische Forderungen an eine geschlechtergerechte Migrationspolitik in Baden-Württemberg zu entwickeln. Bei der Bitte um Teilnahme einer Vertreterin hatten wir die Verbände gebeten, Fachfrauen mit eigenem Migrationshintergrund zu entsenden. Dies ist auch erfreulicherweise gelungen. Die Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, die ASF, Bündnis 90/Die Grünen und der DGB haben Frauen delegiert, die mit ihrer migrationsspezifischen Sozialisation und Kompetenz ganz entscheidend die Entstehung dieses Papiers geprägt haben. Als externe Expertinnen wurden Migrantinnen hinzugezogen, deren Arbeitsschwerpunkt in den Bereichen Bildung und Sozialarbeit liegt. Somit ist es dem Landesfrauenrat gelungen, als erste Gremium auf Landesebene das Thema Migration gemeinsam mit Betroffenen zu erörtern und nicht – wie leider immer noch üblich – stellvertretend für sie Forderungen und Überlegungen zu artikulieren.
Die erste Sitzung des Arbeitskreises hat im Dezember 1999 stattgefunden. In insgesamt fünf Sitzungen wurden die Eckpunkte, die wir im folgenden zu Diskussion stellen, gemeinsam entwickelt. Diese erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie beweisen aber die Dringlichkeit der ernsthaften Auseinandersetzung. Migrationspolitik ist eine Querschnitts-aufgabe, der wir nur dann gerecht werden können, wenn wir uns ernsthaft mit ihr aus-einander setzen. Dies bedeutet auch, dass bestehende Strukturen auf ihre Tauglichkeit geprüft werden müssen. So muss sich die Ausländerbehörde endlich als zentrale Anlauf-stelle mit Servicefunktion begreifen. Statt ausschließlich zu verwalten und zu verhindern, sollten hier Informationen über die rechtliche Situation und Integrationsangebote gebündelt werden. Migrantinnen und Migranten müssen von Beginn ihres Aufenthaltes an über ihre Rechte und Pflichten informiert werden. Hierzu müssen dringend spezifische themen-orientierte Leitfäden erstellt werden.
Um erfolgreiche und langfristige Integration betreiben zu können, bedarf es einer Vernetzung der bis jetzt noch einzeln und isoliert agierenden Institutionen. Diese Netzwerke beginnen auf lokaler Ebene bereits zu wachsen. Wenn die Landesregierung die Rahmenbedingungen für die Integration gleichberechtigter Migrantinnen und Migranten verbessern will, ist sie dringend gefordert, die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen und endlich eine zentrale Koordinierungsstelle für Migration einzurichten.

Präambel

Die gleichberechtigte gesellschaftliche und politische Partizipation von Migrantinnen und Migranten ist die Grundlage für die Entwicklung und Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, die von unterschiedlichen Migrationsprozessen geprägt ist.
Dazu gehören auch Migrationsprozesse, die seitens der Einwanderungsländer nicht mit Aufenthaltsrechten für die Betroffenen legalisiert werden. Auf die Situation dieser Menschen, zu denen sehr viele Frauen in großer Bedrängnis gehören, u.a. Opfer des Menschenhandels, der Zwangsprostitution kann in den nachfolgenden Ausführungen nur bedingt eingegangen werden.
Migration ist kein vorübergehendes Phänomen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen sein wird. Vielmehr deuten wirtschaftliche, soziale und politische Faktoren darauf hin, dass Wanderungsbewegungen, wie bisher auch, die gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen in Deutschland entscheidend beeinflussen werden.
Die Frage der Partizipationsmöglichkeiten von Migrantinnen und Migranten ist bedeutend für eine weitere Demokratisierung unserer Gesellschaft. Demokratisierung bedeutet, dass demokratische Beteiligungsrechte ausgedehnt werden auf Bevölkerungsgruppen, die bisher davon ausgeschlossen waren. Migrationspolitik wurde bisher als Integrationspolitik verstanden. Die Integrationsleistungen wurden vornehmlich den EinwandererInnen abverlangt. Inzwischen wird im gesellschaftlichen Diskurs auch die Beteiligung der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft als notwendig erachtet. Die vorhandenen Ansätze einer „Integrations-politik“, die Integration als wechselseitigen Prozess zwischen zugewanderten Minderheiten und den verschiedenen Gruppen der Mehrheitsgesellschaft begreift reichen bei weitem noch nicht aus.
Insbesondere die Bedeutung der politischen Gleichstellung von Migrantinnen und Migranten wird nach wie vor nur unzureichend beachtet. Integrationsbemühungen von allen Seiten können nur dann auf fruchtbaren Boden gestellt werden, wenn auch die Möglichkeiten der politischen Beteiligung geschaffen werden.
In diesem Sinne ist Integrationspolitik und Migrationspolitik zwar zugeschnitten auf die besonderen Bedürfnisse und Interessen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe; sie erschöpft sich jedoch nicht in Sprachkursen und anderen defizitorientierten Angeboten. Migrantinnen und Migranten sind und bleiben Teil dieser Gesellschaft. Deshalb sollte Migrationspolitik als Querschnittsaufgabe aller Politikbereiche verstanden und umgesetzt werden. Darüber hinaus ist gleichermaßen wichtig, auch strukturelle Benachteiligungen zu beseitigen. Nicht nur Sprachschwierigkeiten verhindern Partizipation; auch fehlende Zugänge zu Entscheidungsebenen und mangelhafte Möglichkeiten der Selbstorganisation, Interessensartikulation und Information schließen diese große Bevölkerungsgruppe aus.

Für die gleichberechtigte politische Partizipation sind folgende konkrete Schritte und Maßnahmen sofort einzuleiten:
Herstellung eines gesellschaftlichen Konsens:
• Integration ist ein Prozess, an dem Angehörige der Einwanderungsminderheiten und der Aufnahmegesellschaft zu beteiligen sind.
• Dieser Prozess muss sich an demokratischen Grund- und Menschenrechten orientieren.
• Rechtsgleichheit und Chancengleichheit von Migrantinnen und Migranten gewährleisten den Erhalt der demokratischen Struktur dieser Gesellschaft.
• Migrationspolitik ist als Querschnittsaufgabe auf kommunaler und auf Landesebene zu verankern.

Rechtliche Gleichstellung:
• Der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes muss durchgesetzt und überwacht werden
• Rechtsgleichheit muss sichergestellt und durch geeignete rechtliche Maßnahmen durchsetzbar werden.
• Diskriminierende Rechtsvorschriften, wie beispielsweise im Ausländerrecht oder Regelungen über Arbeitserlaubnisrecht müssen geändert werden.

Gleiche Teilhabechancen:
• Teilhabechancen durch Anwendung der Grundrechte Art. 1 bis 19 des GG) auch auf MigrantInnen.
• Erleichterung der Einbürgerung mit Akzeptanz der doppelten Staatsangehörigkeit, als Ausdruck der persönlichen Migrationsbiographie
• Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts auf allen Ebenen für alle Migrantinnen und Migranten mit dauerhaftem Aufenthalt
• Gleiche Chancen auf Zugang und Sichtbarwerden in Öffentlichkeit, Medien, Kunst und Kultur ohne in die Nischen besonderer „Wochen des ausländischen Mitbürgers“ und dergl. reduziert zu werden.

Abbau struktureller Diskriminierungen:
• Einrichtung einer Koordinierungsstelle oder einer lnterministeriellen Arbeitsgruppe für Migration, die dem Landtag verantwortlich ist.
• Flächendeckende Einrichtung von Stellen oder Büros für Ausländerbeauftragte, zu besetzen mit Migrantinnen und Migranten.
• Personalentwicklungskonzepte zur Gleichstellung und Förderung von Migrantinnen bei kommunalen Arbeitgebern
• Sicherung und flächendeckender Ausbau der Grundversorgung von Migrantinnen durch migrationsspezifische Beratungsangebote sowie durch interkulturelle Öffnung aller kommunalen Dienstleistungen.

1. Rechtliche Rahmenbedingungen
Die rechtlichen Rahmenbedingungen – das Maß an Rechtssicherheit bzw. Unsicherheit, das sie beinhalten – sind entscheidend für Lebenssituation und Lebensplanung der einzelnen Migrantinnen. Darüber hinaus sind sie als wesentliche von der Mehrheitsgesellschaft gestellten Bedingungen der Integration anzusehen.
Die Problematik der bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen lässt sich verdeutlichen an den Auswirkungen der Neuregelung des § 19 AuslG, der besonders Frauen betrifft:
Mit der Neuregelung vom 25.05.2000 wird die für einen eheunabhängigen Aufenthaltsstatus ausländischer Ehegatten geforderte Mindestbestandzeit einer Ehe von vier auf zwei Jahre verkürzt. Dies ist im Grundsatz zu begrüßen, ebenso die im Vergleich zum früheren Gesetz besseren Definitionen von Situationen besonderer Härte, die zu einer Verkürzung dieser Frist führen kann.
Die Praxis wird zeigen, in welchem Maße dies tatsächlich die Lebenssituation vieler Migratinnen verbessern wird.

Grundsätzlich fordern wir:
 ein Einwanderungsgesetz, das das Grundrecht auf Asyl nicht tangiert
 dass das Ausländergesetz nicht nur vereinfacht, sondern auch den repressiven Charak-ter des Gesetzes beseitigt und in ein Einwanderungsgesetz geändert wird. Darin sollen Gruppen von Migrantinnen und Migranten gleichberechtigt und geschlechtergerecht behandelt bzw. vorhandene Hierarchien abgebaut werden.
Da das gesamte gesetzliche Regelwerk, das Ausländerinnen und Ausländer bzw. Migrantinnen und Migranten betrifft, aus einer Fülle von Detailregelungen besteht, würde bereits die Bündelung und Vereinfachung von Regelungen zu einem überschaubaren Regelwerk den in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten beteiligten Stellen und den Betroffenen selbst den Zugang zu den erforderlichen Rechtsinformationen erleichtern und ihre Rechtssicherheit erhöhen.
Hierzu bedarf es einer verbindlichen Regelung auf Bundesebene, die den Ermessensfreiraum und die Willkür der Ausführungsorgane der jeweiligen Bundesländer, Kommunen und Behörden ausschließt. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht zeigt zwar den Willen der Bundesregierung zur Integration, ist aber in seiner Konzeption und Umsetzung – wie es die Praxis beweist – nicht umfassend durchdacht. Statt ein solches Recht zu schaffen, was von wenigen dann auch beansprucht wird, hätten im Vorfeld gezielte und gewollte Maßnahmen zur politischen Bildung sowie eine offene gesellschaftliche Diskussion mit der gleichberechtigten Einbe-ziehung der Kompetenz und Erfahrung von Migrantinnen und Migranten stattfinden müssen. Dieses notwendige Maß an Aufklärung hätte dazu beigetragen, dass das neue Staatsangehörigkeitsrecht sowohl von Teilen der Aufnahmegesellschaft als auch von den Migrantinnen und Migranten als gesellschaftlich gewollt und auch notwendig verstanden worden wäre.

2. Bildung
Jugendliche und erwachsene MigrantInnen haben Qualifikationen und Kompetenzen, die für eine internationale Wirtschaft und eine multikulturelle Gesellschaft, wie es die einzelnen EU-Länder und die EU im ganzen sind, wichtig und nützlich sind. So erscheint es – auch volkswirtschaftlich gesehen – sinnvoll, das vorhandene Potenzial nicht länger brachliegen zu lassen. Die bestehenden formalen Qualifikationen (Bildungs- und Berufsabschlüsse der Herkunftsländer) werden zumeist formal nicht anerkannt und damit auch nicht wahrgenommen. Geboten wäre es, die vorhandenen Qualifikationen als erste Bausteine für weitere Qualifizierung zu verwenden und Fortbildungsprogramme entsprechend darauf aufzubauen.
Mobilität und Flexibilität gehören zu den besonderen, für die Zukunft geforderten Fähig-keiten, die bei Migrantinnen in der Regel bereits vorausgesetzt werden können. Weiter-bildungsangebote können auch auf eine Fähigkeit zur Eigeninitiative setzen, die in der Entscheidung, anderswo eine Arbeit und eine neue Heimat zu suchen gezeigt wurde. Migrantinnen können und wollen ihre eigene berufliche Zukunft angehen und sich aktiv in die Gesellschaft einbringen.
Da die Zielgruppe sehr heterogen ist, sollten mehrere Wege gefördert werden.

Ansatzpunkte
Allgemeine Grundbildung

Im gesamten allgemeinen Bildungssystem, beginnend mit dem Kindergartenalter sind gleiche Zugangschancen zu Bildung und Erziehung für einheimische und zugewanderte Kinder und Jugendliche bzw. die Kinder von Migrantinnen sicher zu stellen.
Dies erfordert die Entwicklung und feste curriculare Verankerung interkultureller Arbeitsansätze und interkultureller Kompetenz auf allen Ebenen des allgemeinen Bildungssystems einschließlich der Kinderbetreuungseinrichtungen für die Kinder von 0-6 Jahren. Eine entsprechende Aus- und Fortbildung von ErzieherInnen und Lehrkräften ist dazu ebenso unabdingbar wie die gezielte Förderung der Ausbildung und Einstellung von Migrantinnen und Migranten als ErzieherInnen und Lehrkräfte im Erziehungs- und Bildungs-system. Zur Stärkung der muttersprachlichen Kompetenz sind in den allgemeinbildenden Schulen und in den Kindergärten muttersprachliche Unterrichtsmodule vorzusehen. Ein Ausbau von Ganztagesschulen mit integrierter qualifizierter Betreuung der individuellen Übungsaufgaben (bisher sog. „Hausaufgaben“) würde wesentlich dazu beitragen, dass Kinder aus Migrantenfamilien ihre Potenziale ebenso entfalten könnten wie Kinder aus Familien, in denen sie bei der Hausaufgabenerledigung Unterstützung finden können.

Dafür sind entsprechende Mittel bereitzustellen.
Information und Beratung über das Bildungssystem, über Fördermöglichkeiten und Qualifizierungswege müssen Eltern und Jugendlichen leicht zugänglich gemacht werden.
Die Anerkennung von allgemeinen und beruflichen Bildungsabschlüssen, die in den Herkunftsländern erworben wurden, muss ausgeweitet und schneller und flexibler gehandhabt werden. Dazu bedarf es einer Analyse vorhandener Kompetenzen, u.a. interkultureller Kompetenzen und mitgebrachter Sprachkompetenzen.
Bestandteile einer umfassenden Bildungsförderung bei Jugendlichen und Erwachsenen müssen sein:
• Erhalt und Anwendung vorhandener Kompetenzen
• Aus- bzw. Aufbau notwendiger Schlüsselqualifikationen
• Beratung und Vorbereitung auf den Berufseinstieg
• politische Bildung und Informationen/Alltagstraining zum Umgang mit Behörden
• ggf. Alphabetisierungs- und Sprachlernangebote

Die Landesregierung ist gefordert, durch inhaltlich aufeinander abgestimmte Förderprogramme eine Einbindung von Migrantinnen zu unterstützen.
So wie auf Landesebene dazu die verstärkte Kooperation der verschiedenen zuständigen Ministerien erforderlich ist, müssen vor Ort die Partner– dazu gehören Bildungsträger, kommunale Behörden, Arbeitsverwaltung, Ausländerbeauftragte, Gleichstellungsbeauftragte – ihre Zusammenarbeit entwickeln.

Sprache
Das Bedürfnis nach Kommunikation ist ein angeborenes menschliches Grundbedürfnis. Kommunikation schafft erst den Zugang zur Gesellschaft.
Ohne ausreichende Sprachkenntnisse ist weder die Beteiligung an Entscheidungsprozessen, noch der Zugang zu Informationen (z.B. über Rechte) und die Möglichkeit der sprachlichen Verständigung gegeben. Fehlende Sprachkenntnisse und damit fehlende Kommunikationsmöglichkeiten zeitigen enorme Probleme für die Einzelnen bzw. die Familien.
Als Folge der sprachlichen Isolierung treten verstärkt psychische und psychosomatische Probleme auf. Insbesondere Frauen sind häufig sprachlich von Familienangehörigen oder von FreundInnen aus der eigenen Sprachgruppe abhängig. Somit ist die Kommunikation mit der Nachbar-schaft und mit der Mehrheitsgesellschaft nicht möglich und die schulische Entwicklung der Kinder kann nicht in deutsch begleitet werden.
Nicht nur aufgrund der familiären Isolation, sondern auch in der Arbeitswelt ist das Erlernen der deutschen Sprache für viele Migrantinnen nicht möglich. Häufig üben sie Tätigkeiten mit geringen Kommunikations- wie auch Spracherwerbsmöglichkeiten aus, weil auch die Arbeits-kollegInnen MigrantInnen sind. Die Einwanderungsgesellschaft muss durch das Angebot und die Finanzierung von Förderprogrammen und Kursen für Migrantinnen diesen Zugang schaffen. Deutschkurse müssen verpflichtend eingeführt werden bei Anfang des Aufenthalts. Diese Kurse müssen kostenlos und bedarfsgerecht für die Zielgruppe sein. Spezielle Lehr-bücher und Lehrmaterialien müssen entwickelt und zur Verfügung gestellt werden. Die soziokulturelle Situation der Migrantinnen ist darin zu beachten.
Kurzfristig sollte die Anerkennung der Kosten für Deutschkurse als Werbungskosten durch das Finanzamt beim Lohnsteuerausgleich veranlasst werden.
Im Bereich der allgemeinen Grundbildung in Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen ist die Förderung der sprachlichen Kompetenz von Migrantinnen fest im Aufgabenkatalog bzw. Lehrplänen zu verankern. Dazu gehört die Schaffung von zielgruppengerechten Voraussetzungen zum Erwerb der deutschen Sprache.
Zusätzlich zum schulischen Bereich sind die Kommunen gefordert, vor Ort den interkulturellen Dialog und Prozesse transkulturellen Lernens von Frauen unterschiedlicher Herkunft durch Bereitstellung den Räumen und entsprechende Maßnahmen zu unterstützen.

3. Arbeit und Ausbildung

Migrantinnen sind mehrheitlich in Niedriglohnsektoren tätig: in Reinigung, Gastronomie, andere Dienstleistungen sowie in den untersten Lohngruppen im produzierenden Gewerbe. Diese Tätigkeitsbereiche sind rationalisierungs- (und im öffentlichen Dienst: privatisierungs-) gefährdet. Die Berufswahl der jungen Frauen der zweiten und dritten Generation ist auf wenige (schlechtbezahlte) Berufe beschränkt wie Friseurin, Arzthelferin, Verkäuferin …
Migrantinnen der ersten Generation sind vornehmlich un- und angelernte Arbeitnehmerinnen mit häufig monotoner und körperlich anstrengender Tätigkeit mit wenig oder keinen Entscheidungsmöglichkeiten. Damit verbunden sind niedrige Löhne und Armut trotz Arbeit. Die Folgen des geringen Verdienstes sind gravierend: ggf. ein sehr geringes Arbeitslosen-geld, eine sehr kleine Rente, was zur Altersarmut führt. Sozialhilfebezug kann für bestimmte Migrant(inn)engruppen zum Verlust der Aufenthaltsgenehmigung führen.
In der betrieblichen Hierarchie stehen ausländische Frauen auf der unterster sozialen Stufe. Sie werden häufig bei betrieblichen Entscheidungsprozessen ignoriert und sind von den deutschen ArbeitskollegInnen isoliert. In Betrieben ohne Betriebsrat sind besonders Migrantinnen häufig Gesetzesverstößen (Arbeitszeiten, Lohnabrechnungen etc.) ausgesetzt..

Forderungen, Maßnahmen
Grundsätzlich
• existenzsichernde, leistungsgerechte Entlohnung für alle und menschen- und frauenwürdige Arbeitsbedingungen ohne Segregation nach Nationalitäten
• Neubewertung der Leistung und Leistungskriterien
• Thematisierung der gesellschaftlichen Wertung von Tätigkeiten, die der Grundbedürfnisbefriedigung dienen bzw. gesellschaftlich notwendig sind, d.h. die von Frauen ausgeübten dienenden, helfenden und pflegenden Tätigkeiten mit dem Ziel, diese Tätigkeiten sozial aufzuwerten und sie gerecht zu entlohnen
• Gesellschaftliche notwendige Tätigkeiten (z.B. Reinigung) müssen zu Ausbildungsberufen gemacht werden
• Entlohnung von Frauen in Niedriglohnsektoren als Thema der öffentlichen Diskussion: Armut trotz Arbeit.
Im besonderen
• Betriebliche Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Migrantinnen
• Sprachliche Qualifizierungsangebote am Arbeitsplatz
• Zielgerichtete Information über Rechte in der Arbeitswelt durch Betriebsrat, Gewerkschaft etc.
‚• Weiterbildungsmöglichkeiten und Schaffung von Möglichkeiten zur Erlangung beruflicher Abschlüsse und Qualifikation für alle – unabhängig vom Alter

4. Gesundheitliche Versorgung von Migrantinnen

Das medizinische System ist weitgehend mono-kulturell und schichtenspezifisch ausgerichtet. Nicht genügend zur Kenntnis nimmt es migrationsspezifische Erfahrungen, spezifischen Ausdruck von Krankheit und Schmerz sowie die Bedeutung der Einbeziehung des familiären Zusammenhangs in Heilungsprozesse. Auf Seiten der Migrantinnen besteht ein großes Informationsdefizit über Möglichkeiten der gesundheitlichen Versorgung. Häufig erschweren fehlende deutsche Sprachkenntnisse den gleichberechtigten Zugang zur medizinischen Versorgung. Besonderer Bedarf an das Gesundheitsversorgungssystem ergibt sich durch einen wachsenden Anteil von Migrantinnen der ersten Generation, die auch ihren Lebensabend hier verbringen. Migration führt auch zur Auflösung familiärer Hilfestrukturen für Krankheit und Alter. Die Entwicklung interkultureller Arbeitsansätze in Kliniken, Alten-, Pflegeheimen und in der ambulanten Versorgung ist notwendig, um älteren Migrantinnen das Recht auf einen Lebensabend in Würde zu gewährleisten. Besonders problematisch ist die gesundheitliche Versorgung für Menschen, die illegal in unserem Lande leben. Da wir in unseren Forderungen nicht im einzelnen auf diese Gruppe von Menschen eingehen können, unter denen sich viele Frauen in Zwangslagen befinden, sei hier lediglich auf die zur Nachahmung empfohlende Möglichkeit von Hilfsnetzen ver-wiesen. Ein Beispiel ist die Bremer Organisation „Medinet“ – zur kostenlosen medizinischen Versorgung von illegalen Flüchtlingen durch ÄrztInnen.

Forderungen:
• Qualifizierung des Gesundheitssystems durch transkulturelle Medizinwissenschaft für andere Lebens-, Krankheits- und Genesungsprozesse
• Bestehende Strukturen im Gesundheitswesen für Migrantinnen transparent machen und zu öffnen
• Information/Aufklärung über Rechte und Pflichten im Sozialsystem, über örtliche und regionale Gesundheitsversorgungsangebote (Ärzte, Kliniken, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen etc.) durch muttersprachliche lokale und regionale „Leitfäden“ sowie durch mündliche (muttersprachliche) Aufklärung durch die Sozialberatungsstellen
• Fachspezifische Dolmetscherdienste in Kliniken und Praxen
• Öffnung der Selbsthilfegruppen im Gesundheitsbereich für Migrantinnen.
• Aus-/Fortbildung von ÄrztInnen für MigrantInnensprechstunden, Rahmenverträge mit den Krankenkassen (analog der Diabetikersprechstunden)
• Sozialpädagogische Schulung und Begleitung von MitarbeiterInnen der (Gesundheits-) Behörden für den Umgang mit MigrantInnen
• Vernetzung aller im Gesundheitsbereich engagierten Fachkräfte nach dem Beispiel funktionierender Netzwerke wie z.B. Kölner Gesundheitszentrum.