Beim Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg angesiedelt arbeitet seit 2011 die Allianz für Fachkräfte Baden-Württemberg, in der auch der Landesfrauenrat mitwirkt. Sie vereinigt alle Partner, die an der Sicherung des Fachkräfteangebots für die mittelständische Wirtschaft in Baden-Württemberg arbeiten. Weitere Informationen zur Fachkräfteallianz unter: http://www.mfw.baden-wuerttemberg.de/sixcms/detail.php?id=274205&template=wm_pressemeldung&nav_id=6344
Für die im Dezember 2011 unterzeichnete Vereinbarung (das Bündnispapier) hat der LFR im August 2011 folgende Anmerkungen eingebracht.
I. Grundsätzliches
Gender Mainstreaming
Zukunftstaugliche Arbeitsergebnisse müssen europäische Standards bzw. Zielvereinbarungen in den Blick nehmen. Dazu gehört das Prinzip des Gender Mainstreaming als aktives Gestaltungsprinzip für demokratische Geschlechterverhältnisse in Europa, das die EU als durchgängiges Leitprinzip in den Mitgliedsstaaten mit dem Amsterdamer Vertrag bereits 1997 verpflichtend gemacht hat.
Grundsätzlich muss bei allen vorgeschlagenen Maßnahmen dieses Prinzip Anwendung finden; das heißt beispielweise:
– Bei allen quantitativ erfassten Informationen und Planungsdaten und Berichten grundsätzlich eine differenzierte Datenerhebung nach Geschlecht, des Weiteren nach Alter und – wenn möglich – nach Migrationshintergrund.
– Bei allen quantitativen Zielvorgaben Angaben zu angestrebten Mindestquoten bezogen auf die Geschlechter.
– Bei der Besetzung aller Gremien und regionaler Fachkräfte-Allianzen ist auf eine angemessene Vertretung von Frauen explizit Wert zu legen, etwa durch Beteiligung von kommunalen Frauenbeauftragten, Frauenverbänden bzw. -initiativen vor Ort bzw. durch eine Mindestquote für Frauen.
– Im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung über das gesamte Berufsleben die geschlechtsspezifischen Gesundheitsbedarfe angemessen berücksichtigen.
Traditionelle Geschlechterrollen überwinden – einer neuen Kultur den Weg ebnen
Das traditionelle geschlechter- und familienpolitische Leitbild, das dem Mann die Rolle eines Familienernährers und der Frau die Zuständigkeit für die im Regelfall privat zu leistende Kindererziehung, Pflege und die Haushaltsführung zuweist, wirkt nach wie vor in vielen Köpfen und wird durch gesellschaftliche, ökonomische, rechtliche und infrastrukturelle Rahmenbedingungen gestützt. Diese bewirken u.a. eine ungleiche Verteilung der Chancen von Frauen und Männern auf persönliche Entwicklung, eigenständige Existenzsicherung durch Erwerbseinkommen und Verwirklichung beruflich verwertbarer Potenziale und Kompetenzen.
Die Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, die vorhandene öffentliche Infrastruktur und Teile des Steuer bzw. Sozialsystems werden Eltern, die Familie und Beruf vereinbaren wollen, also sowohl ihre beruflichen Qualifikationen einsetzen und erhalten wollen als auch aktiv Verantwortung als Eltern übernehmen wollen, vielfach nicht gerecht. Unter ökonomischen und bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten erweisen sich sie als doppelt kontraproduktiv: ein längerer Berufsausstieg führt zum Verlust von Qualifikationen, in die zuvor die Gesellschaft als Ganzes oder ein Einzelunternehmen investiert hat. Eine hohe Zahl gut ausgebildeter Frauen verzichtet auf die Realisierung eines Kinderwunsches.
II. Ergänzungen zu einzelnen Zielen/Messgrößen
Berufliche Ausbildung verstärken
Stärkung und Ausweitung der Möglichkeit zur Teilzeitausbildung (besonders für junge Frauen und Männer mit Familienverantwortung)
Berufliche Weiterbildung ausbauen
Anteil Beschäftigter nach Geschlecht und ein besonderes Augenmerk auf Beschäftigte, die bislang nur in prekären Arbeitsverhältnissen tätig sind (ältere Arbeitnehmerinnen, Alleinerziehende, Migrantinnen und Frauen, die einer ethnischen Minderheit angehören.) bzw. die auf familiären Gründen ihre Erwerbstätigkeit reduziert oder unterbrochen haben. Weiterbildungsverbünde kleinerer Unternehmen, die gezielte Angebote für Beschäftigtengruppen machen, die bislang wenig Weiterbildungsmaßnahmen in Anspruch nehmen.
Beschäftigung von Frauen steigern
Hier empfehlen wir, sich grundsätzlich auch an der Expertise zu „Aktivierung von Fachkräftepotenzialen: Frauen und Mütter“ (IZA Research Report No 39) im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zu orientieren.
Neben den dringend verbesserungswürdigen Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und familiärer Verantwortung für Kinder bzw. pflegebedürftige Angehörige gehören auch bundesweit neu zu regelnde Rahmenbedingungen dazu. Durch entsprechende Initiativen auf Bundesebene muss die Landesregierung entsprechende Rahmenbedingungen vorantreiben, insbesondere:
Reform des Steuerrechts mit dem Ziel der Individualbesteuerung (Abschaffung des Ehegattensplittings, siehe Kurzexpertise IZA Research Report No 39Seite 19) und Sozialversicherungs- und Versteuerungspflicht für alle Beschäftigungsumfänge (Abschaffung Mini- und Midijobregelungen, siehe Kurzexpertise IZA Research Report No 39 Seite 22)
Zur Erhöhung der Erwerbsquote bzw. des Arbeitsvolumens der Frauen ist eine Forcierung der Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unerlässlich, insbesondere:
Entwicklung der sozialen Infrastruktur und der Verkehrsinfrastruktur dahingehend, dass sie Müttern und Vätern bzw. privat Pflegenden in gleichem Maße Zugang zu beruflicher Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Erwerbseinkommen und beruflicher Fortbildung ermöglicht.
Ausbau der frühkindlichen Betreuung und Bildung und der Betreuungsdienste für hilfebedürftige Ältere
> Ausbau der institutionellen ganztägigen Kinderbetreuung und –Bildung ab dem 2. Lebensjahr, flächendeckend entsprechend der getroffenen Zielvorgabe (34 Prozent der unter Dreijährigen bis zum Jahr 2013);
> Zügiger Ausbau der Ganztagsschulen besonders auch für Kinder im Grundschulalter entsprechend der vereinbarten Zielvorgabe der Landesregierung (bis zum Schuljahr 2014/2015 sollen 40 Prozent der öffentlichen allgemeinbildenden Schulen Ganztagsschulen werden);
> Ausbau wohnortnaher ambulanter Pflegeangebote – vor allem auch im ländlichen Raum; vernetzte gemeindenahe Versorgung auch bei schwerer Pflegebedürftigkeit, da die Menschen in ihrer häuslichen Umgebung versorgt und gepflegt werden wollen;
Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, insbesondere im ländlichen Raum: mit kurzen Wege(zeiten) bzw. einem bedarfsgerechten und abgestimmten öffentlichen Nahverkehrsystem muss die zeitlich-räumliche Koordination ermöglicht werden zwischen Wohnort, Arbeitsplatz und außerhäuslichen Lern- und Lebensorten von Kindern.
Arbeitszeiten und Tarifpolitik
Flexible, den Anforderungen an eine Vereinbarkeit angemessene Arbeitszeiten
Arbeitszeitgestaltung, mit Tarifpolitik Bedingungen für die Vereinbarkeit von familiären und beruflichen Aufgaben und Zielen herzustellen, die eine partnerschaftliche, paritätische Aufgabenverteilung in der Familie stützen und beiden Partnern ein eigenes Erwerbseinkommen und den Erhalt und die Weiterentwicklung ihrer beruflichen Qualifikation gewährleisten. Propagierung entsprechender Best-Practice-Modelle gerade für mittelständische Unternehmen.
Förderung qualifizierter Teilzeitarbeitsplätze für Frauen und Männer. Vor allem zukunftsorientierte Technologie-Branchen sollten durch eine Förderung qualifizierter Teilzeitarbeitsplätze für Frauen und Männer, auch in Führungspositionen, Maßstäbe setzen für eine Unternehmenskultur, die ihnen mittel- und langfristig ihre qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Familienverantwortung erhält.
Förderung einer ausgewogenen Aufteilung privater und familiärer Pflichten zwischen Frauen und Männern: Dazu können auch Anreizsysteme gehören (z.B. „Bügelservices“).
Verringerung des Gender Pay Gaps in Baden-Württemberg
Das Land Baden-Württemberg muss sich das Ziel setzen, den Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern (2008 durchschnittlich 28,5 %) bis zum Jahr 2020 auf höchstens 10 % zu reduzieren. Dafür ist es für die Landesregierung nötig, sich mit Wirtschaft und Arbeitnehmer/innenvertretung sowie weiteren gesellschaftlichen Akteuren auf ein konkretes Programm zur Verringerung des Gender Pay Gap zu verständigen.
Existenzsichernde Erwerbseinkommen
Wirtschaft, Tarifvertragsparteien und Politik müssen existenzsichernde Einkommen bei Vollzeiterwerbstätigkeit gewährleisten, u.a. durch einen gesetzlichen Mindestlohn.
Neu- bzw. Höherbewertung der Arbeit/Verantwortung mit und für Menschen
Soziale Dienstleistungen gewinnen in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. Auch hier zeichnet sich ein Fachkräftemangel ab. Bildung und Betreuung von Kindern, Pflege kranker und älterer Menschen verlangen qualifizierte Arbeit, die entsprechend bezahlt werden muss. Um diese Arbeit angemessen zu entlohnen, muss die öffentliche Hand verlässliche Finanzierungsquellen zur Verfügung haben. Dies wird nicht ohne eine höhere Besteuerung der Bestverdienenden möglich sein.
Care Ökonomie – Fair Care: Im Pflegebereich sind soziale Absicherung, Pflege-Mindestlohn sowie Qualitätsstandards miteinander zu vereinbaren. Fair Care muss vor allem für die zahlreichen Migrantinnen umgesetzt werden, die auf illegaler Basis als Arbeitskräfte in hiesigen Haushalten beschäftigt sind.
Beschäftigung älterer Personen erhöhen
Besonders das Potenzial älterer Frauen wird bislang sehr unzureichend genutzt und abgerufen. Erforderlich sind gezielte berufliche Weiterbildungsangebote, flexible Arbeitszeitmodelle und qualifizierte Arbeitsplätze. Gemischtaltrige Teams, in die spezifische Kompetenzen der Altersgruppen eingebracht werden können.
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung abbauen
Aktive Beschäftigungspolitik, Investitionen
Der Landesfrauenrat erwartet, dass in einer nachhaltigen, auf den Schutz der Ressourcen und am Bedarf der Menschen orientierten Wirtschaftsstrategie für Baden-Württemberg gezielte Maßnahmen und Zielsetzungen für die Gleichstellung von Frauen und Männern benannt werden. Im Rahmen einer Beschäftigungsstrategie für das Land Baden-Württemberg ist ebenso wie bei der Bekämpfung von Beschäftigungskrisen in einzelnen Branchen ein effizienter Einsatz des Gender Mainstreaming zu entwickeln.
Schaffung zusätzlicher Angebote im Bereich der sozialen Infrastruktur, vor allem in ländlichen Räumen, bei der Kinderbetreuung und zunehmend zur Versorgung von Pflegebedürftigen. Gute Infrastruktur ist ein Standortfaktor und wird nicht nur Arbeitsplätze schaffen und die Vereinbarkeit verbessern, sondern gleichzeitig zur Lebensqualität beitragen und der Abwanderung, vor allem aus ländlichen Räumen, entgegenwirken.
Verknüpfung finanzieller Förderungen mit Zielvorgaben im Sinne des Gender Mainstreaming und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Der Einsatz der zur Kofinanzierung bereitgestellten Mittel für beschäftigungspolitische Initiativen aus europäischen Mitteln für die Verbesserung der Situation für Frauen ist sicherzustellen.
Die Landesregierung sollte Existenzgründungsinitiativen von Frauen gezielt fördern.
Beratung
– Gewährleistung von spezifischen Informations- und Beratungsangeboten für Berufs-Wiedereinsteigerinnen (einschl. Frauen, die aus prekären in solide Beschäftigungsverhältnisse einsteigen wollen) und für Existenzgründerinnen.
– Beratung von Arbeitnehmer/Innen, Existenzgründer/Innen, bestehenden Betrieben und Verankerung von Beratung/ggf. Training im Bereich der Vereinbarkeit bzw. der Umsetzung der Gender-Mainstreaming-Leitlinie bei Kammern und Wirtschaftsorganisationen.
Stuttgart, August 2011